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Vom Schloss zur bürgerlichen Geselligkeit. Aspekte bürgerlicher Geselligkeitskultur in ihrer Entwicklung und Wirkung in der Region

Beate Neubauer / Gisela Licht
(Auszug aus gleichnamigem Kapitel in FrauenOrte/ Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt; Bd. 1; S.98-111; Halle 2008)

[…] Jedoch wird über die Ideen der Vernunft etwas ganz besonders Neues auffällig: Die Frauen tragen den Prozess der Aufklärung, den Prozess der Annäherung zwischen Adel und erstarkendem Bürgertum, mit. […]

[…] Die Frauenrollenbilder sind nach wie vor… festgelegt und werden der Tradierung sowohl des Adels als auch des Bürgertums untergeordnet. Pflichtheiraten sind selbstverständlich, denn die Heiratspolitik ist und bleibt wesentlichstes Mittel zum Erhalt und zur Repräsentation der Familien. Der Einfluss der Frauen geht einen kleinen Umweg – über den „Salon“, ein Begriff, der lange nicht gebräuchlich ist, sondern den erst das ausgehende 19., das bürgerliche Jahrhundert, verwendet. […]

[…] Geselligkeit bedeutet Konversation über gesellschaftliche wie familiäre Themen, die Pflege von Musik und das Lesen neuester Literatur, Dichtung und das Theaterspiel. […]

[…] Die musikalische Louise Caroline Reichardt, zu ihren Taufpaten gehört die Fürstin Luise von Anhalt-Dessau, wird durch die Blattern nie als eine Schönheit gelten können und muss in der 12-köpfigen Familie bald den Haushalt führen sowie sich an der Pflege ihrer kleinen Geschwister beteiligen. Diese weiblichen Pflichten zu erfüllen, ist für jedes Mädchen eine Selbstverständlichkeit und dass Louise, durch den geselligen Verkehr des elterlichen Hauses angeregt, sich bald eine geistige wie musikalische Bildung aneignet, ist bemerkenswert. M.G.W. Brandt beschreibt es so: „Öffentlich liess sie der Vater indes niemals als Sängerin auftreten, und ihr Wirkungskreis beschränkte sich daher auf die Kirche und zahlreiche Privatzirkel […]

Für gewöhnlich muss sie sich indes daheim ganz dem Haushalt widmen, doch so, dass die Gäste sie nie im Gesellschaftszimmer vermissten und sie immer bereit war, den Vater bei den Unterhaltungen zu unterstützen, sei es durch Musik oder durch Gespräch. Um dies bei sehr geringer Dienerschaft möglich zu machen, stand sie schon um 4 oder 5 Uhr Morgens auf, besorgte, so viel es möglich war, alle häuslichen Geschäfte noch vor dem Frühstück, und dann benutzten die Mädchen das Stündchen nachher, wo die Gäste noch im Gespräch mit dem beredten Hauswirt festgehalten wurden, die Gastzimmer in Ordnung zu bringen, sodass diese wie von unsichtbaren Händen bedient wurden.“ […] Wie viele der frühen Geselligkeiten sowohl des Adels als des Bürgertums vergeht auch der Reichardtsche Kreis in Halle mit der napoleonischen Besetzung 1806. Die Frauen teilen sich die Sorge ums Überleben, Louise gibt Gesangsunterricht, auch in Kassel, wo der Vater einen Neuanfang versucht. Hier äußert sich Wilhelm Grimm: „Etwas Genialisches ist bei alledem in dem Mädchen, das sich nur in unseren Sitten und in ihrem Geschlecht nicht äußern kann.“ […]